Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

Lukas 18,31-43

Guten Morgen! Wunderbar, dass wir wieder alle beisammen sind! Heute ist ein richtig goldener Herbsttag. Noch immer hat es viele Bäume und Sträucher, die wunderschön bunt sind. Diese Farben sind ein Segen, ein Zeichen der liebenden Gegenwart Gottes. Es gibt Menschen, die diese Schönheiten geniessen. Aber andere, die sie nicht sehen. Entweder weil sie eine Sehbehinderung haben, vielleicht aber auch ihr Augenlicht bei einem Unfall verloren haben. Oder aber sie würden sie zwar mit den Augen sehen, aber nehmen sie nicht wahr. Dafür sind sie zu gestresst, zu beschäftigt, vielleicht auch zu traurig oder zu wütend. Vielleicht aber gibt es Leute mit Sehbeeinträchtigungen, die die Schönheiten der Natur mit dem Herzen aufnehmen: die Gerüche, die wärmenden Sonnenstrahlen, den kalten Novemberwind. Auch im heutigen Wort erfahren wir, dass Sehen nicht gleich Sehen ist. Als Jesus auf seinem letzten Weg war, wussten seine Jünger, was passieren würde. Aber sie waren verblendet durch ihre eigenen Vorstellungen von Jesu Herrschaft, sodass sie die Macht und die Implikationen seiner Liebe nicht wahrnehmen konnten. Dagegen gab es einen Bettler, der sah mit den leiblichen Augen nichts. Aber er war nicht blind für die Erkenntnis Jesu Christi. Sein Glaube verhalf ihm schliesslich sogar dazu, wieder körperlich sehend zu werden. – Lesen wir zusammen den Titel meiner Botschaft: «Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!» Und lesen wir zusammen den Leitvers, Vers 38.

Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

Lukas 18,38

Die Geschichte, die ich euch heute erzählen möchte, habe ich in einer Predigt gelesen. Ich wiedergebe sie hier in eigenen Worten. In einem Land gab es einen mächtigen Herrscher. Dieser wurde von allen gefürchtet und liess sich wie einen Gott verehren. Er hatte sich ein grosses, mächtiges Reich aufgebaut und regierte es mit eiserner Hand. Eines Tages gab es in der Hauptstadt des Reiches einen Tumult. Bei diesem kamen Menschen zu Schaden; unter anderen starben mehrere Leute aus verschiedenen sozialen Schichten. Ein Reicher, dessen Freund getötet worden war, wollte sich an einem armen Mann rächen, von dem er behauptete, er habe im Tumult seinen Freund getötet. Es gab kein funktionierendes Rechtssystem, das den Armen geschützt hätte. Als das der Herrscher erfuhr, tat er etwas sehr Ungewöhnliches. Er kam, stellte sich vor den Armen und sprach zum Reichen, der seine Waffe schon gezückt hatte: «Du darfst diesen Mann umbringen. Aber zuerst musst du mich töten.» Natürlich sah der Reiche dann von seiner Tat ab…

Jesus ist im Grunde dieser Herrscher. Die Geschichte lässt ein bisschen erahnen, wie erhaben und wie barmherzig der Sohn des Höchsten ist. Wie viel Heil ist bei Jesus Christus zu finden, der sich gerne auf die Seite der Schwachen, Leidenden, Kleinen und Rechtlosen stellt! Dieses Heil sollten Jesu zwölf Jünger auch sehen, allerdings waren sie aktuell noch nicht bereit dafür. Aber ein Mann erlebte Jesu Heil im Hier und Jetzt: ein einfacher Mann, ein Bettler, der nichts sehen konnte.

Teil 1: Es wird alles vollendet werden (Verse 31-34)

Jesus ging hinauf nach Jerusalem. Es war seine letzte Reise, bevor er gekreuzigt werden sollte. Anders als die Menschen um ihn herum, wusste er, was ihn erwartete. Er bereitete sich innerlich darauf vor. Wie gerne wollte er, dass auch seine Jünger das verstanden und richtig einordnen könnten, was bald geschehen würde! Diese aber überlegten sich ihre eigenen Dinge. Sie träumten davon, dass Jesus in Jerusalem die Macht ergreifen und König werden würde. Dann würden sie bestimmt alle eine wichtige Position innerhalb seiner Entourage bekleiden. Es war unter ihnen immer wieder ein Diskussionspunkt, wer von ihnen der Grösste war, der in Jesu Königreich zur Rechten oder zur Linken des Herrschers sitzen würde. Die Jünger machten sich eine völlig falsche Vorstellung von dem, was sie in Jerusalem erwartete! Dabei hätten sie es eigentlich wissen sollen. Schon zweimal hatte ihnen Jesus sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung angekündigt. Eine grosse Menschenmenge folgte Jesus. Aber er widmete sich nur den Zwölfen, als er nun sprach. Er begann mit den Worten: «Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.» Seine Jünger sollten wissen, dass das, was sie nun erwartete, nicht die Willkür von Jesu Feinden war. Sondern alles, was Jesus tat und tun würde, war die Erfüllung von Gottes Wort und Gottes Willen. Die Schrift gibt viele Zeugnisse von Jesu Leiden und Sterben: Jesaja 50, Jesaja 53, Daniel 9, Psalm 22, Psalm 69, Sacharja 12 und sicher noch andere Bibelkapitel weisen darauf hin. Psalm 16 und Psalm 30 geben Hinweise auf Jesu Auferstehung. Würde Jesus sterben, würde er auch auferstehen. Was passieren würde, würde vollkommen im Zeichen der Erfüllung dieser Bibelworte sein. Dann sagte Jesus seinen Jüngern direkt: «Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geisseln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.» Diese Nachricht war für die Zwölf ganz schrecklich. Drei Jahre lang hatten sie Tag und Nacht mit Jesus, ihrem geliebten Rabbi, gelebt, mit ihm wunderschöne Gemeinschaft gehabt, seine lebengebende Lehre gehört, seine mächtige Hilfe erfahren und waren Zeugen von seinen Wundertaten gewesen. Bei ihm hatten sie immer echte Liebe und Wertschätzung gespürt und das Interesse daran, dass sie auf seinem Weg blieben, sodass sie ins Himmelreich kommen würden. Und dann sollte Jesus plötzlich weg sein, und dazu noch auf so brutale Weise ermordet werden? Was sollten sie dann machen? Auch wir, die wir viele Jahre nach Jesu Kreuzestod leben, erschrecken manchmal über die Geschehnisse rund um den Tod des Christus. Dann denken wir: Der arme Jesus, was musste er alles erleiden! Was wir in dem Moment nicht bedenken: Jesus hat das alles vollkommen freiwillig auf sich genommen. Er wollte den vollen Preis für unsere Sünden bezahlen, damit wir frei ausgehen. Sein Leiden und sein Tod waren notwendig. Was wie seine totale Niederlage aussah, war in Wirklichkeit der vollkommene Sieg: Jesus nagelte alle Macht der Sünde mit sich ans Kreuz. Seine Liebe hat über den Hass der Feinde Gottes, sogar über den des Satans, gesiegt. Und Jesus hat am dritten Tag alle Mächte des Todes überwunden, indem er auferstand. Das heisst, dass beides gleichermassen grosse Herrlichkeit hatte und uns wundervolle, ewige Hoffnung schenkt: Jesu Tod und Jesu Auferstehung.

Wie reagierten die zwölf Jünger auf seine Ankündigung? Eigentlich gar nicht wirklich. Sie waren überhaupt nicht bereit, das Gesagte aufzunehmen. Beim ersten Mal hatte Simon Petrus noch aufbegehrt und gerufen: «Das widerfahre dir bloss nicht!» Er hielt auf menschliche Weise an Jesus fest und wollte ihn nicht verlieren – dabei war der vorübergehende Verlust notwendig für Gottes Erlösungswerk. Diesmal nahm sich selbst Petrus, der wohl glühendste Anhänger Jesu, die Ankündigung Jesu nicht mehr zu Herzen. Sie alle verstanden nichts von dem, was Jesus sagte, und der Sinn seiner Worte war vor ihnen verborgen. Aus unserer menschlichen Sicht ist das durchaus nachvollziehbar. Stellt euch vor, da ist ein Top-Manager. Zu dem sagt einer: «Morgen wirst du bankrott gehen und dein ganzes Vermögen verlieren.» Was macht der erfolgsverwöhnte Mann mit diesen Informationen? Er sagt vielleicht: «Was erzählst denn du für einen Unsinn? Bist du verrückt geworden, oder was?» Oder er sagt nichts und denkt sich seinen Teil: «Hoffentlich hat der Mensch nicht recht! Ich glaube, ich muss mein Vermögen noch besser schützen und versichern.» Wenn man ihm dann der Jemand noch ergänzend sagen würde: «Aber nach einiger Zeit wirst du wieder Erfolg haben und neues Vermögen erwirtschaften.» Dann würde ihm der Top-Manager wohl schon nicht mehr zuhören. Wir Menschen scheinen nicht gemacht zu sein für das Unerwartete. Hätten denn die zwölf Jünger Jesu anders auf Jesu Ankündigung von Leiden und Sterben reagieren können? In ihrer aktuellen Lage wohl nicht. Ihre Augen und Herzen waren zwar offen für den Menschen Jesus. Aber nicht für Jesus als Sohn Gottes, als Messias. Sie würden erst die schrecklichen Tage um Jesu Kreuzigung herum erleben müssen, bis ihre Herzen geläutert und ihre geistlichen Augen nicht mehr verblendet sein würden. Auch für uns gilt: Wenn wir unser Herz und unseren Kopf nicht frei für Jesus haben, können wir den Umfang seines Heils und den Sinn seines Opfers am Kreuz nicht erfassen. Dann kann es sogar sein, dass wir ärgerlich über Jesus werden, dessen Tun wir nicht in allem begreifen. Daher tun wir gut daran, uns mit Jesu Wort zu befassen und uns nicht zumüllen zu lassen mit eigenen Gedanken, zu vielen medialen Inhalten und Einflüssen weltlicher ‘Lehren’. Und dafür auch, und gerade, in der Schwierigkeit ganz dem HERRN vertrauen und uns auf das einlassen, was er uns lehren und in unserem Leben bewirken will.

Teil 2: Herr, dass ich sehen kann (Verse 35-43)

Auf dem Weg nach Jerusalem kam Jesus an Jericho vorbei. Das war kein Zufall, denn dort sollte er eine kleine Rettungsmission bekommen. Es gab ganz viele Menschen um ihn, aber einer von ihnen sollte ihm bald darauf besonders auffallen. Weniger der Mensch als seine Herzenshaltung. Jesus sieht ja die Menschen einzeln, blickt direkt in ihr Herz und kümmert sich individuell um sie. Bei ihm gibt es keine Massenabfertigung, sondern persönliche Beziehungen. Betrachten wir den Vers 35: «Es geschah aber, als er in die Nähe von Jericho kam, da sass ein Blinder am Wege und bettelte.» Dieser Mensch war in einer hoffnungslosen Lage. Wegen seiner Sehbehinderung konnte er keiner normalen Arbeit nachgehen. Damals gab es weder Schulen für Menschen mit Sehproblemen noch Berufe, die dafür gedacht waren, dass man sie ausüben konnte, ohne etwas zu sehen. Es blieb dem Mann nur das Betteln, um das Geld für seinen Lebensunterhalt – besser gesagt, für das Nötigste – zusammen zu bekommen. Er hatte seinen festen Platz am Weg, wo viele Menschen durchkamen, denn Jericho war eine bedeutende Stadt. Herodes Antipas hatte darin einen Palast gebaut. Die Stadt dürfte gross gewesen sein, da sie an einer fruchtbaren Oase lag; sie wurde auch Palmenstadt genannt. Dieser Bettler hatte einen einigermassen guten Platz ausgewählt. Einigermassen, weil viele auf der Durchfahrt waren und es zu eilig hatten, um dem Mann ein Almosen zuzuwerfen. Tagein, tagaus bettelte der sehbeeinträchtigte Mann. Bis an dem Tag etwas seine Routine nachhaltig durchbrach. Da war auf einmal eine grosse Menschenmenge, die sich näherte; er hörte Stimmen, bald darauf auch Schritte. Bald war klar, dass das kein Tumult oder Kampf war, sondern fröhlicher Lärm. Ein innerlicher Ruck muss durch den Bettler gegangen sein. War das vielleicht…? Er wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Und fragte nach, was da los war, bis es ihm jemand sagen konnte. Seine grosse, scheinbar irrwitzige Hoffnung bestätigte sich: Jesus von Nazareth war in der Nähe, und er sollte auf dieser Strasse vorbeikommen! Der Bettler hatte von diesem Jesus einiges gehört. Er wusste, dass er der verheissene Messias sein musste an dem, was er sagte und tat. Das glaubte der Mann felsenfest. Jesus kam immer näher, das war am anschwellenden Geräuschpegel unschwer zu erkennen. Der Bettler wusste: Das war seine Chance auf Heilung. Jetzt oder nie! Wenn er die Gelegenheit nicht ergriff, dann würde sich vielleicht sein ganzes restliches Leben lang keine mehr bieten. Denn es war nicht üblich, dass Jesus in der Gegend war, und wie sollte er, der doch nichts sah und Mobilität nicht gewöhnt war, zu ihm kommen? Zumindest innerlich dankte der Mann den Freudenboten, die ihm gesagt hatten, Jesus komme. Und dann war Jesus da, in unmittelbarer Nähe! Nun musste der Bettler auf sich aufmerksam machen. Was er auch tat. Er rief: «Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!» Die Anrede «Sohn Davids» zeigt, wie genau der Mann wusste, wer Jesus war. Der Heiland der Welt kommt aus dem Stamm Juda, von der Verwandtschaftslinie Davids her. David war ein guter, gerechter König gewesen. Jesus war und ist der König der Welt! Dieser Bettler hatte ihn schon zu seinem Herzenskönig gemacht. Er wusste aber auch: Er konnte ihm keinerlei Gegenleistung geben, wenn er ihn heilte. Die paar Scherflein, die er vielleicht hätte erübrigen können, waren so gut wie nichts, ein beschämender kleiner Lohn für eine extrem grosse Leistung. Die Haltung des Bettlers, auf das Erbarmen Jesu angewiesen zu sein, sollte auch unsere Haltung sein, wenn wir zum HERRN kommen. Denn wir sind alle Sünder und uns fehlt der Ruhm, den wir vor dem und für den HERRN eigentlich haben sollten. Und wie gerne lässt er denen, die ihn anrufen, seine Barmherzigkeit in deren ganzen Fülle zukommen! Der Bettler rief Jesus also. Aber es gab ein grösseres Hindernis beim zu ihm Kommen; sehen wir uns den Vers 39 an: «Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!» Offenbar war dieser rufende Bettler manchen Menschen lästig. Als Mensch mit einer Behinderung war er nicht gut angesehen in der Gesellschaft. Er brachte dieser keinen wirtschaftlichen Nutzen, sondern im Gegenteil, er war vom Geld anderer Menschen abhängig. Noch heute gibt es leider viele Menschen, die andere verachten und geringschätzen, weil sie keine wirtschaftliche Leistung bringen oder sich nicht in die gesellschaftlichen Normen einfügen können. Oder noch schlimmer: dass man Leute nicht arbeiten lässt, obwohl sie es doch wollen, und dann sieht man sie als Schmarotzer an. Wie dem auch sei, dieser Rufende am Wegrand nervte andere. Aber der HERR lässt sich nicht nerven von denen, die ihn ernsthaft anrufen. Wir dürfen, ja sollen dem HERRN mit unseren Anliegen in den Ohren liegen. Im Gleichnis von der Witwe und dem ungerechten Richter haben wir gesehen, dass sich Hartnäckigkeit auszahlt. Bei ungerechten weltlichen Richtern, und erst recht beim HERRN, der gerecht richtet und der uns liebt und für absolut wertvoll hält. Wertvoll und seiner Rettung und Hilfe wert. Auch wenn wir Sünder sind und immer bleiben werden. Dazu ist Jesus gekommen, um uns dort abzuholen, wo wir sind, und uns zu ihm und seinem Vater zu bringen. Und um mit uns eine persönliche Beziehung aufzubauen, die immer tiefer wird und bis in Ewigkeit hält.

Dieser Bettler glich der Witwe im Gleichnis: Er wollte unbedingt die Hilfe, die er nötig hatte, und bat so lange um diese, bis er sie bekam. Aber in zweierlei Hinsicht unterscheidet er sich auch von der Witwe. Erstens hatte die Witwe viele Gelegenheiten, zum Richter zu kommen, der ihr Recht verschaffen sollte gegen ihren Widersacher. Der Bettler, der nichts sah, hatte nur eine. Die Witwe forderte ihr Recht ein, während der Bettler keinerlei Anspruch auf Hilfe hatte. Und doch erhielt er sie. Jesus rührte dieser Rufende, denn in seiner Stimme schwangen Glaube und Hoffnung mit, zudem eine Dringlichkeit, die nicht zu überhören oder über-fühlen war. Jesus blieb also stehen und bat ein paar Leute, die gerade bei ihm standen, den Bettler zu ihm zu führen. Zum zweiten Mal gebrauchte der HERR umstehende Menschen, um den Bettler zu sich zu holen. Die ersten waren die Freudeboten gewesen, die dem Mann gesagt hatten, Jesus sei in der Gegend. Und nun brachte man den Mann zu Jesus! Dieser sagte ihm etwas, mit dem der Bettler vermutlich so nicht gerechnet hatte. Betrachten wir den Vers 41: «Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann.» Das Anliegen dieses Bettlers war einigermassen offensichtlich. Wenn er wieder sehend sein würde, dann würde er einer geregelten Arbeit nachgehen können, eine Familie gründen, ein ganz normales Leben führen. Wie wertvoll war für ihn diese Normalität, wie sehr muss er sich nach Freiheit und Selbständigkeit gesehnt haben! Ja, er scheute die diversen Herausforderungen nicht, die ein normales Leben mit sich bringen würden. Er hatte keinerlei Arbeitserfahrungen, und er musste sogar zuerst einmal wieder lernen, sich mit seinen Augen zu orientieren. Er war vom sozialen Leben weitgehend ausgeschlossen gewesen, weshalb er sich in den Normen und Strukturen der Gesellschaft erst einmal zurechtfinden musste. Aber er entschied sich dafür, sehend werden zu wollen. Und nicht Jesus beispielsweise darum zu bitten, so viel Geld zu bekommen, dass er nie mehr betteln gehen musste. Sein Wunsch war es nicht, im Status Quo zu verharren, mit geänderten Rahmenbedingungen. Er wollte sich selber ändern und etwas bewegen in seinem Leben. Sein Anliegen war also ein sehr aktives, fruchtbares: «Herr, dass ich sehen kann.» Auch wir haben bisweilen dieses Anliegen. Nicht wegen unserer leiblichen Augen, denn Gott sei Dank können wir alle sehen. Sondern mit den geistlichen Augen: Jesus tiefer zu erkennen, mehr über seine Gnade und seine Liebestaten zu wissen, mehr Freude an ihm und seiner Liebe zu haben, offen zu sein, um von ihm zu lernen. Ja, möge der HERR unsere geistlichen Augen auftun und uns durch seinen Geist Erkenntnis, Gehorsam und Gegenliebe schenken!

Manchmal schaffen wir es, einfach zum HERRN zu kommen, wie wir sind. Alle Theorie für einen Moment lang Theorie sein zu lassen, alle möglichen Vorurteile und Sichtbeschränkungen gegenüber dem HERRN beiseitezulassen. Und uns von ganzem Herzen an den HERRN zu wenden, mit einem konkreten Anliegen, das uns im Herzen brennt. Unser Gebet wird dann natürlich, unser Anliegen sagen wir direkt und ungeschönt. Einmal, ich war Anfang dreissig, war ich in einer grossen finanziellen Schieflage. An der Universität Bern, an der ich vorher gearbeitet hatte, fehlten die Mittel, um mich weiter zu beschäftigen. Ich stand ohne Arbeit und damit ohne Lohn dar. Das Geld auf meinem Konto wurde immer weniger und der Kontostand machte mir zunehmend Sorgen. Von was sollte ich leben, wenn ich kein Geld mehr haben würde? Wegen dieser Sache betete ich immer wieder, aber eher oberflächlich oder fordernd. Bis mir eines Morgens meine Not so richtig bewusst wurde. Verzweifelt wandte ich mich an Gott. Nicht mit einem Hilferuf wie bis dahin, sondern mit diesem Anliegen: «HERR, ich will von deinen Ressourcen leben und nicht von einem fetten Bankkonto.» Ich betete unter Tränen, aber gewann währenddessen neue Hoffnung, obwohl sich an der Situation noch nicht das Geringste geändert hätte. Ein Regenbogen vor meinem Fenster, der sich kurz zeigte, bestätigte mir, dass der HERR mein Gebet gehört und sich meiner Sache angenommen hatte. Um die Uhrzeit sind normalerweise nordwestlich von meiner Wohnung keine Regenbögen zu sehen. Einige Tage danach erfüllte sich mein Anliegen: Der HERR gab es, dass ich die Zusage für eine temporäre Stelle beim Bundesamt für Statistik bekam. Diese Stelle öffnete mir dann auch den Weg für weitere befristete Jobs dort. Und jenes Gebet am Morgen war auch der Beginn einer Zeit, in der ich immer mehr lernte, dass Gott mein Versorger ist. Auf dies vertraue ich auch jetzt ganz, wo ich mir wieder einen neuen Job suchen müssen werde.

In der Tat, der HERR entspricht unseren Wünschen gerne, wenn wir sie mit Glauben und Vertrauen zu ihm bringen. Es bewegt ihn, was wir zu ihm sagen und ihm anvertrauen. Oftmals erhört er unsere Gebete dann sofort. Aber nicht immer. Manchmal will er uns noch weiter im Glauben trainieren, oder er will uns etwas noch Besseres geben als das Erbetene. Oft ist noch nicht sichtbar, wie der HERR unser Gebet erhören wird. Aber wir sollen wissen und dürfen uns gewiss sein: Er hat es gehört, und er hört uns weiterhin aufmerksam zu. Unseren Worten oder unseren stummen Gebeten. Diesen Mann erhörte Jesus sofort und erfüllte ihm seinen Herzenswunsch sogleich. Betrachten wir den Vers 42: «Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.» Diese Heilungsweise ist aussergewöhnlich und bemerkenswert. Sie gleicht dem Befehl Jesu, den er einmal einem Gelähmten gab. Dem sagte er, er solle aufstehen, sein Bett nehmen und nach Hause gehen. Das war eine Herausforderung: Bis jetzt war das nie gegangen, da brauchte es sehr viel Glauben, um zu denken, dass das jetzt ging. Auch der Bettler brauchte dieses Vertrauen. Er sollte seine Augen aufschlagen, dann würde er sehen. Und das tat er. Dabei hatte er von Jesus nur dieses Wort bekommen: «Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.» Er hätte sich vielleicht wünschen können, dass Jesus ihm die Hände auflegte oder so etwas. Aber das war gar nicht nötig; der Glaube des Mannes war genug stark, dass er Solches nicht brauchte. Jesus sagte ihm nicht, er habe ihm geholfen, obwohl er das entscheidende Momentum war, dass der Mann wieder sehen konnte. Sondern der Glaube des Mannes habe dieses Wunder bewirkt. Glaube kann wirklich Berge versetzen. Es ist der HERR, der uns hilft, aber er gebraucht unseren Glauben dazu, dass er in und unter uns wirkt. Probieren auch wir es aus. Denken wir über Gottes Wort nach, dass dem HERRN nichts unmöglich ist, und vertreiben wir mit seinem Wort Unglauben und Zweifel aus unseren Herzen. Und beten dann voller Vertrauen darauf, dass der HERR etwas machen wird mit unserem Gebet. Auf diese Weise haben schon ganz viele Menschen Gottes Wunder erlebt! Dieser Bettler erlebte ein grosses Wunder. Durch die Worte der Propheten wusste er, dass es zu den Werken des Messias gehört, dass Blinde das Augenlicht bekommen. Aber er kannte nicht nur die Theorie, sondern wusste, dass diese in der Praxis auf ihn anwendbar war. Der Satan flüstert uns gerne Sachen ein wie: «Für die anderen mag dieses und dieses Bibelwort gelten, aber nicht für dich, du bist zu sündig, du hast zu wenig Glauben, du glaubst viel zu wenig von Herzen.» Schenken wir dem keinen Glauben! Das ist ganz wichtig. Sondern denken wir an Gottes Verheissungen, Zusagen und Versprechen. Jedes einzelne gilt auch für uns, für dich, für mich. – Wie reagierte der Mann und wie reagierten die Umstehenden, als der Bettler sehend wurde? Betrachten wir den Vers 43: «Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.» Alle sahen, dass da etwas ganz Mächtiges, Übermenschliches geschah. Da war Gott direkt am Wirken, mitten unter den Menschen! Der Geheilte war überglücklich. Er zeigte echte Dankbarkeit. Nämlich indem er nicht etwa wegging und ab dann einfach das Leben lebte, das er leben wollte. Sondern indem er beschloss, mit seinem Leben den HERRN, der ihm so grossartig geholfen hatte, zu preisen. Was er mit Jesus erlebt hatte, war von einer wunderschönen Intimität geprägt. Jesus hatte mit ihm gesprochen, bevor er ihn geheilt hatte, sein Anliegen abgeholt und ihm dann erst geholfen. Aber die Sache hatte Strahlkraft weit über ihn hinaus. Viele Menschen müssen dadurch erkannt haben, dass sie den Messias vor sich hatten. Für das tut der HERR Zeichen und Wunder: dass man ihn als den HERRN, den Lebendigen, den Barmherzigen erkennt! Jesus fragt übrigens auch jeden und jede von uns: «Was willst du, dass ich für dich tun soll?» Wir sollten uns überlegen, was wir Jesus auf diese Frage antworten. Was ist unser Herzenswunsch? Am meisten freut sich Jesus, wenn dieser Wunsch etwas Geistliches ist: ihn tiefer zu kennen, sein Wort zu verstehen, die persönliche Beziehung zu ihm zu vertiefen oder Vergleichbares. Aber er hört auch genauso hin und will helfen, wenn wir ein Anliegen für Hilfe und Heilung haben. Denn er liebt uns von ganzem Herzen und seine Barmherzigkeit ist grenzenlos. Lasst uns dies bei ihm erleben! Möge der HERR uns Glauben wie ein Senfkorn schenken, also echten Glauben und wirkliches Gottvertrauen, unabhängig davon, wie stark unser Glaube schon ist. Möge er uns passende, gute Gebetsanliegen schenken, durch welche wir seine grossartige Gebetserhörung erleben können. Und möge er uns Beharrlichkeit im Gebet schenken. Lasst uns von ganzen Herzen zu ihm kommen. Wir werden seine Wunder sehen!

Lesen wir zum Schluss nochmals zusammen den Leitvers, Vers 38: «Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!»